Bereits auf dem Mädchengymnasium gründet Sofie Quidenus in Wien ihre erste Firma. Bei Unternehmen Nummer vier setzt sie Künstliche Intelligenz ein, um die Versicherungsbranche von Berlin aus zu revolutionieren.
Sofie Quidenus-Wahlforss hat sich schon früh in Bereiche vorgewagt, die anderen zu riskant erscheinen. „Als kleines Kind bin ich immer auf die Spitze der höchsten Bäume geklettert“, erinnert sich die sportliche junge Frau. Ihren Eltern sei es immer wichtig gewesen, dass sie möglichst viele Erfahrungen sammelt. „Wenn ich vom Baum gefallen bin, war das auch eine Erfahrung. Und es hat gezeigt, dass ich mutig bin.“
Mutig und risikofreudig ist Sofie bis heute. Die Wienerin ist Mitgründerin und CEO des Berliner Technologieunternehmens Omni:us – es ist bereits das vierte Unternehmen, das sie (mit-)gegründet hat. Ihr jüngstes Startup hat die 36-Jährige 2018 auf die Forbes-Liste der „50 Women in Tech Europe“ gebracht. Omni:us setzt Künstliche Intelligenz ein, um Dokumente, auch Handschriften, digital zu erfassen, automatisch auszuwerten und zu verstehen, worum es in den Dokumenten geht. Das System lernt hinzu und wird immer besser. Omni:us fokussiert sich dabei auf die Versicherungswirtschaft. „Da sehen wir das größte Potenzial, denn jeder Mensch hat mit Versicherungen zu tun.“
Als Unternehmerin muss sie sich durchsetzen und auch Rückschläge wegstecken können. „Ich kann das nur, wenn ich an die Sache glaube“, sagt Sofie. Sie ist fest überzeugt, dass Künstliche Intelligenz in der Lage ist, dem Sachbearbeiter einer Versicherung die anfallende Schreibarbeit abzunehmen, damit dieser mehr Zeit für seine Kunden und deren Bedürfnisse hat. „Es geht nicht darum, den Mitarbeiter zu ersetzen, sondern ihn in die Lage zu versetzen, sich auf das zu fokussieren, was er kann: nämlich empathisches Verhalten“, erklärt sie. „Kein Mensch möchte, dass am Ende eine Maschine Entscheidungen trifft.“
Internationale Investoren hat diese Idee überzeugt. Insgesamt rund 20 Millionen Euro haben sie bereits in Omni:us investiert. Geld verdient das Start-up mit dem Verkauf von Lizenzen für seine Software. Viele große Versicherungen arbeiten bereits mit Omni:us zusammen, aktuell auch mit Wüstenrot an einem PoC (Proof of Concept = Prüfung der Durchführbarkeit eines Vorhabens).
„Ich bin ein Landei“, sagt sie, weil sie in einem kleinen Dorf nahe Oberndorf bei Salzburg geboren ist. Mit drei Jahren zieht sie mit ihrer Familie nach Wien, wo sie aufwächst, im 19. Bezirk in der Nähe der Weinberge. Als Kind in Jeans-Latzhose sieht sie sich als Abenteurerin. „Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren war mein Idol“, erinnert sie sich. Eine andere Leidenschaft ist das Schwimmen. „Ich bin eine Wasserratte“, behauptet sie von sich. Dann sagt sie: „Ich bin eine Straßenkatze“, und meint damit, dass sie eine Kämpferin ist und eine Frau, die die einfachen Dinge schätzt und nicht auf Luxus versessen ist. Ihren Sommerurlaub hat sie gerade mit ihrem Mann in der Inselwelt der schwedischen Schären verbracht, mit Kajak und Übernachtung im Zelt. „Ich bin gern in der Natur und ich bin gern unterwegs“, sagt sie. „Das macht mich glücklich.“
Glücklich ist sie auch über die Schule, die sie besuchen durfte: das Gymnasium Maria Regina, eine katholische Mädchenschule. „Ich bin da sehr, sehr wohl erzogen rausgekommen“, behauptet Sofie augenzwinkernd und erwähnt, dass sie in Betragen immer eine drei hatte. Dennoch: „Die Mädchenschule war für mich wirklich toll, denn das Mädchen-Burschen-Thema gab es bei uns nicht und ich konnte mich ganz vorurteilsfrei mit technischen Themen auseinandersetzen“, erinnert sie sich. „Und ich habe mich immer für technische Themen interessiert.“
Die Schule spornt ihren Ehrgeiz an. Klassensprecherin ist sie, Schulsprecherin auch und sportlich dazu. „Ich habe immer Basketball gespielt und an Leichtathletik-Wettkämpfen teilgenommen. Das war lustiger als in der Klasse zu sitzen“, findet Sofie. Mit 16 Jahren bekommt sie die Chance ihre erste Firma zu gründen. Es ist eine Malschule für Senioren. „Aber es gab eine, hidden agenda‘“, verrät sie. In Wahrheit sei die Malschule eine Partnervermittlung gewesen. „Ich habe immer einen Mann und eine Frau zusammengebracht und sie zusammen Aktzeichnen lassen – und das im Kloster“, sagt sie und lacht, dass die braunen Augen strahlen. Die Malschule gibt sie auf, weil sie zu sehr von der Schule ablenkt. Doch Sofie gründet gleich die nächste Firma, organisiert den Wiener Frühlingsball für 4800 Schülerinnen und Schüler.
Bei so viel Geschäftssinn und Liebe zur Technik – Sofie maturiert in Informatik – überrascht es, dass ihr erster Berufswunsch Regisseurin ist. „Ich habe mich am Max Reinhardt Seminar beworben, doch sie haben mich nicht genommen. Man sagte mir, ich sollte es nächstes Jahr noch einmal versuchen“, erinnert sie sich. So geht die tatkräftige junge Frau fürs Theater verloren, denn um die Wartezeit zu überbrücken, beginnt sie an der WU Wien ein Wirtschaftsstudium. „Das war spannender als erwartet“, sagt sie rückblickend. Mit 21 Jahren gründet Sofie die dritte Firma: Qidenus Technologies.
Qidenus? Vor allem ihre Eltern und Großmutter sind irritiert über den Namen, bei dem das U fehlt. „Ich habe es irgendwie cooler gefunden ohne U“ erklärt Sofie. „QI ist das chinesische Wort für Energie und wenn man die Buchstaben umdreht, ist es IQ. Beides passte einfach gut.“ Ihre Firma baut einen Roboter, der automatisch Bücher scannt. Dazu gehört der von Sofie entwickelte bionische Finger, der dem menschlichen Zeigefinger nachempfunden ist und Seiten automatisch umblättert. Das Besondere: Der Roboterfinger lernt bei jedem Umblättern dazu und wird so immer besser. Sofie und ihr Team suchen das passende Geschäftsmodell für den Roboter und finden es nach mehreren Fehlversuchen schließlich im Scannen von Büchern für Archive und Nationalbibliotheken. So wird das Wissen aus diesen unschätzbaren Datenspeichern für die ganze Welt zugänglich. Qidenus Technologies steigt schnell zum Marktführer im Bereich Robotik und Digitalisierung auf.
„Wir haben über die Zeit 980 Millionen Seiten digitalisiert“, erzählt Sofie stolz. Das ist beeindruckend und doch reicht es ihr nicht. „Die Digitalisierung ist echt ein großes Ding. Aber sie ist nur der erste Schritt, mit dem aus Büchern Berge digitaler Dokumente werden. Aber wenn man sie nicht versteht, sie nicht automatisch auswerten kann, ist das alles nichts wert“, findet sie. „So kreiere ich eigentlich nur noch mehr manuelle Arbeit.“ Qidenus Technologies scannt weiter Bücher, bis heute, aber inzwischen ohne Sofie. Bereits 2012 beginnt sie, über die Gründung einer neuen Firma nachzudenken.
2015 ist es soweit. Sofie gründet SearchInk in Berlin. Wieder eine Technologiefirma, wieder geht es um maschinelles Lernen. Später wird das Startup in Omni:us umbenannt. Aber warum in Berlin? „Erstens, weil ich mich verknallt habe“, gibt sie zu. Der Besagte ist der Schwede Eric Wahlforss. Er hat auch in Berlin gegründet, den Musik-Streamingdienst Soundcloud. Heute sind die beiden verheiratet und leben in der deutschen Hauptstadt.
Für Berlin sprechen in ihren Augen aber auch andere, geschäftliche Gründe. „Die Startup-Szene in Berlin ist zu dem Zeitpunkt einfach viel weiter entwickelt gewesen als die Wiener Szene“, sagt sie. „Hier gibt es so viele Gründer, mit denen man sich mal bei einem Kaffee austauschen kann, die Investoren sind hier und wir haben von der Investitionsbank Berlin eine großzügige Förderung erhalten. Es ist ein Paradies. Ich liebe Berlin.“ So kommt es, dass Sofie und ihre vier Mitgründer Eric Pfarl, Stephan Dorfmeister, Martin Micko und Harald Gölles ihr Startup in Berlin ansiedeln, obwohl sie alle fünf Österreicher sind. „Es war nicht schwer, die anderen zu überzeugen. Berlin ist einfach überzeugend.“
Als Frau ist Sofie in der männlich geprägten Startup-Szene immer noch eine Ausnahme. „Es ist anders als in meiner Schulzeit, jetzt habe ich plötzlich nur noch mit Burschen zu tun“, lacht sie. Nur wenige Frauen gründen, noch weniger Frauen gründen Deep-Tech-Unternehmen, also solche, mit technologisch anspruchsvollem Produkt. Was sie von anderen Frauen unterscheidet? „Ich gehe gern Risiken ein. So bin ich erzogen“, sagt sie. Beide Eltern sind selbstständig und Tochter Sofie führt ein Unternehmen, das inzwischen 60 Mitarbeiter beschäftigt. 45 Prozent sind Frauen. „Ich habe es mir gut gerichtet“, findet sie. „Und es macht mir echt Spaß.“
Heimweh? „Oh ja“, platzt es aus ihr heraus. „Ich liebe Wien und ich bin häufig da, um meine Eltern und meine Großmutter zu besuchen.“ Sie kann sich vorstellen, nach Wien zurückzukehren. Aber noch nicht jetzt. Jetzt will sie erst einmal die gesamte Versicherungsbranche in die digitale Zukunft bringen.