Der Tod eines Menschen kann alles verändern. Weil Anemone Zeim das weiß, kann sie anderen helfen, den Weg in ein Leben nach dem Verlust zu finden und Erinnerungen zu bewahren.
Ein kleines Ladengeschäft in Hamburg-Eimsbüttel mit einer Gartenbank davor. Auf der sitzt Geschäftsinhaberin Anemone Zeim an diesem lauen Juliabend und genießt die freie Zeit nach getaner Arbeit. Nachbarn gehen vorbei und grüßen freundlich, manchmal setzt sich einer dazu und plaudert. Eine Kulisse, die gut passt zum Sommer, zu Gemütlichkeit und eben diesem Gefühl von Leben. Das ist so, obwohl – oder gerade weil – hinter der Gartenbank gleich über dem Schaufenster ein Schild angebracht ist, auf dem steht, was in Anemone Zeims Laden angeboten wird: „Trauerberatung“.
„Trauer ist so alt und so lebenswichtig wie die Liebe“, sagt Zeim. Sie ist die Inhaberin von „Vergiss mein nie“ und sieht mit den langen dunkelblonden Haaren und ihren 37 Jahren eigentlich viel zu fröhlich aus für jemanden, der sich hauptberuflich mit Trauer und Tod auseinandersetzt. Gemeinsam mit ihrer damaligen Nachbarin Madita van Hülsen hat sie vor vier Jahren die Agentur als Start-up gegründet, deren Themen Verlust, Schmerz, Loslassen und der mutige Blick nach vorn sind. Seit diesem Jahr ist Zeim alleinige Geschäftsführerin.
Wie aber kam die junge Frau, die eigentlich Diplom-Designerin ist, zur Trauerberatung? Nach ihrem Studium in Stuttgart arbeitete Zeim zunächst erfolgreich in einer Hamburger Werbeagentur für Text und Konzeption. „Doch irgendwann hatte ich eine echte Sinnkrise“, erzählt sie. Es genügte ihr nicht mehr, möglichst verkaufseffektiv Produkte wie Waschmittel oder Fischdosen zu präsentieren. Sie musste sich verändern. „Ich habe mich auf das besonnen, was ich gut kann: Ich bin Profi im Kreativsein, und ich bin Trauerprofi aus eigener Erfahrung“, sagt sie und fügt an: „Mit Trauern kenne ich mich leider aus; ich weiß, wie sich das anfühlt.“
Ein Schlüsselmoment für die Veränderung in ihrem Leben, für die Entscheidung zu „Vergiss mein nie“, waren die Vorbereitungen zu der Beerdigung ihrer Mutter. Damals entwarf sie die Abschiedskarte, die zu der Erinnerung an ihrer Mutter passte. „Das übliche Büttenpapier mit schwarzer Umrandung zeigt zwar die Tragik des Verlustes, aber das Leben eines Menschen ist doch so viel mehr als nur das Ende. Meine Mutter war fröhlich und die Karte war es deshalb auch“, sagt Zeim. Statt einen Kranz binden zu lassen, bat sie die Blumenhändlerin, über den Sarg eine wilde Blumenwiese auszubreiten. „Hinterher hat mich die Floristin angerufen und sich bedankt: Sie habe noch nie etwas so Schönes machen dürfen“, berichtet Zeim. „Das hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich mit seiner Trauer auseinanderzusetzen. Was bedeutet das alles, auch für uns selbst? Was macht Trauer mit uns? Es hilft so viel, sich diese Fragen zu stellen.“
Von der Straße aus blickt man in den hellen Laden durch eine große Schaufensterscheibe, auf der Zeim einen Ring aus Blumen in vielen Farben und Vögeln gemalt hat. In der Mitte prangt der Slogan „Schönes für Trauernde“. „Bei uns gibt es Dinge zu kaufen, die helfen, Erinnerungen zu bewahren und mit Gefühlen umzugehen“, berichtet Zeim. Dazu gehören zum Beispiel der Erste-Hilfe-Würfel und die nur zehn Zentimeter hohe Papp-Pyramide, in die man seine Wut hineinschreiben oder auch brüllen kann und die man anschließend vergräbt oder verbrennt. „Das mag kindisch wirken, aber es hilft vielen sehr: einfach, weil sie endlich ihre Trauer und Wut benutzen können und sich erlauben, mit ihren Gefühlen nicht vernünftig zu sein“, meint Zeim. Der ausgebildeten Prozess- und Trauerbegleiterin ist wichtig, mit ihren Klienten Rituale zu entwickeln, die ihnen guttun.
Sie wolle, so erklärt sie, ein Starterkabel für liegengebliebene Motoren sein. Im besten Fall entstehe eine Art Freundschaft zwischen den Hinterbliebenen und deren Trauer. „Es geht darum, sich selbst in der Trauer wiederzufinden und mit ihr positiv zu leben. Es geht nicht nur um ein Weiterleben, dafür hat sich zu viel verändert. Es geht um ein neues Leben“, erklärt Zeim. Für dieses neue Leben sucht sie mit ihren Klienten nach dem Weg aus der Vergangenheit, der am wenigsten schmerzvoll ist. Was macht man beispielsweise an Festtagen, wenn die alten Rituale wehtun? Eine Option ist, Rituale zu verändern oder gleich neue zu suchen, die in den veränderten Zusammenhang passen. „Der eine kann unter der Dusche stehen und neue Kraft finden, dem anderen hilft der Spaziergang mit dem Hund; es ist fast immer etwas ganz Einfaches“, erklärt Zeim und ergänzt: „Ich kann niemandem auch nur ein Gramm Trauer abnehmen. Aber ich kann schauen, wo die Kraft ist, die dieses Gewicht tragen kann.“
Was bleibt, das Einzige, was man behalten darf, wenn ein Mensch geht, ist die Erinnerung. In ihrer Erinnerungswerkstatt entwickelt Anemone Zeim gemeinsam mit ihren Klienten Möglichkeiten, um Erinnerungen festzuhalten. „Das ist jedes Mal anders und sehr persönlich. Ich habe zum Beispiel den selbstgestrickten Pullover der Mutter meiner Kundin aufgetrennt und aus dieser Wolle einen Schal gestrickt. Der hat zu meiner Kundin gepasst und kann jetzt als Erinnerung an ihrem Alltag teilnehmen“, erzählt die Designerin.
„Das, was ich jetzt tue, ist das Schönste und von allem, was ich jemals getan habe, macht es mich am glücklichsten.“ Zeim sagt diesen Satz so, dass man weiß, dass er wahr ist. „Das hier ist meine Bestimmung. Ich habe selbst Trauer erlebt, ich bin durch Krisen gegangen und habe sie überstanden. Das hat etwas Gutes, etwas Cooles aus mir geformt. Darauf bin ich stolz. Und ich weiß jetzt, dass es ganz schlimme Zeiten geben kann, die sich deshalb ändern, weil wir etwas daraus machen können.“ Es ist die Hoffnung, die die Hamburgerin ins Leben trägt, und die sie lächelnd weitergibt.