Introvertierte Menschen werden oft unterschätzt. Zu Unrecht, denn statt mit großen Tönen punkten sie mit Kompetenz.
Extrovertierte Menschen sind beliebt. Sie sind gesprächig und gesellig, schließen leicht Freundschaften und sorgen auf Partys für Stimmung. Auch in Unternehmen werden Mitarbeiter geschätzt, die selbstsicher auftreten, Geschäftspartner beeindrucken und Kollegen mitreißen können. All das können auch introvertierte Menschen. Es fällt ihnen nur mitunter etwas schwerer als ihren extrovertierten Kollegen. Vor allem aber haben sie ganz eigene Qualitäten, die jedes Unternehmen braucht.
Viele stellen sich introvertierte Menschen als schüchterne Einzelgänger vor. Und oft sind sie das auch. Aber eben nicht unbedingt. Introvertierte Menschen können ebenso gesellig wie selbstbewusst sein. Aber sie halten sich zurück, hören lieber zu, als dass sie reden und sie sind auch gerne alleine. Der entscheidende Unterschied zwischen extrovertierten und introvertierten Persönlichkeitstypen ist der Grad der äußeren Stimulation, den sie brauchen. Introvertierte Menschen brauchen tendenziell weniger Außenreize. Sie treffen sich gerne mit einer guten Freundin zu Hause, während Extrovertierte lieber mit ihrer Clique um die Häuser ziehen. Introvertierte brauchen Zeit für sich alleine, um sich zu regenerieren. Extrovertierte dagegen regenerieren sich in Gesellschaft.
Wenn diese unterschiedlichen Persönlichkeitstypen beschrieben werden, heißt das nicht, dass jeder Mensch voll und ganz dem einen oder anderen Typ entspricht. Doch neigen wir alle entweder in die eine oder andere Richtung, die einen mehr, die anderen weniger stark.
Die US-amerikanische Unternehmensberaterin und Autorin Susan Cain beschreibt in ihrem Buch „Still – die Kraft der Introvertierten”, wie in unserer Kultur der Selbstdarstellung ein zunehmend höherer Wert beigemessen wird. Die Extraversion wurde zum Ideal. Introvertierte müssten sich unter diesen Umständen fühlen wie „Frauen in einer Männerwelt”: Sie werden wegen etwas gering geschätzt, das sie im Innersten ausmacht.
Gerade für Führungspositionen suchen Unternehmen bevorzugt nach charismatischen, dynamischen, redegewandten und kontaktfreudigen Persönlichkeiten. Trotzdem schaffen es auch viele zurückhaltende Persönlichkeiten bis ganz nach oben in die Chefetagen. Unter Gründern und Unternehmern sind sie zahlreich vertreten. Einige der erfolgreichsten Figuren der letzten Jahrzehnte wie Bill Gates (Microsoft), Larry Page (Mitgründer von Google) und Mark Zuckerberg (Facebook) sind introvertiert. Die Digitalisierung und das Internet boten ihnen neue Entfaltungsmöglichkeiten: Nerds, die ihre Zeit lieber vor dem Bildschirm als auf dem Fußballplatz verbringen, ertüftelten Ideen und Programme, die die Welt veränderten.
Auch die digitale Kommunikation per Chat oder E-Mail bietet Introvertierten Vorteile. Die Kommunikation auf Distanz kommt ihnen entgegen. Hier können sie ihre Defizite in der direkten Kommunikation gut kompensieren. Ausstrahlung, Performance und Sprechtempo spielen keine Rolle. Inhalte zählen – ein Vorteil für Introvertierte. Auch die Schüchternen können in den sozialen Medien als Influencer Popularität gewinnen oder beim Online-Dating erfolgreich sein.
Für introvertierte Führungskräfte liegen Chancen in einer weiteren Entwicklung. Im Zuge der Digitalisierung geht der Trend hin zu flachen Hierarchien. Um flexibel auf einen sich immer schneller verändernden Markt reagieren zu können, setzen Unternehmen verstärkt auf mehr Eigeninitiative und Selbstständigkeit ihrer Mitarbeiter. Und mit einem Team von engagierten Mitarbeitern sind introvertierte Führungskräfte besonders erfolgreich. Das haben Untersuchungen des Management-Professors Adam Grant von der Wharton Business School gezeigt. Ihnen fällt es, anders als Extrovertierten, leicht, ihren Mitarbeitern zuzuhören, Ideen aufzugreifen und ihnen dort, wo sie gut sind, Verantwortung zu übertragen.
Auch wenn es viele introvertierte Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft oder in der Politik gibt – eine soziale Führungsrolle ist ihnen nicht in die Wiege gelegt. Die dominanteren Extrovertierten sind hier im Vorteil. Dagegen werden ruhigere Menschen überproportional häufig zu führenden Experten in ihrem Fachgebiet. Davon zeugen Namen wie Charles Darwin oder Albert Einstein. Ruhigere Menschen können sich besser auf eine Aufgabe konzentrieren, die sie systematisch bearbeiten. Ein weiterer Grund für herausragende Leistungen: Sie sind gerne alleine. Und alleine verbringen sie viel Zeit mit ihren Studien, Versuchen und Übungen. Auf diese Weise bringen sie es auf ihrem Gebiet eher zur Meisterschaft als Kollegen, die viel Zeit mit Freunden oder auf Partys verbringen oder die nur in der Gruppe lernen können - was weniger effektiv ist.
Unterschiedliche Persönlichkeitstypen haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Introvertierte Mitarbeiter sind nicht besser als Extrovertierte. Aber manches können sie tatsächlich besser. Unternehmen sind also gut beraten, introvertierte Mitarbeiter zu beschäftigen und ihnen zu ermöglichen, ihr Potenzial zu entfalten. Dazu könnte beispielsweise gehören, nicht alle Mitarbeiter zu intensiver Teamarbeit in geschäftigen Großraumbüros zu verdonnern. Introvertierte Kollegen sollten die Möglichkeiten haben, sich zurückzuziehen, um sich alleine einer Aufgabe zu widmen. Dafür sollten auch Räume zur Verfügung stehen.