In ihrem Buch „Die Wiederentdeckung der Muße“ plädiert die Meditationslehrerin Nicole Stern für ein entschleunigtes Leben und erklärt im Interview, wie Pausenzeiten unseren Blick auf die Welt ändern können.
Um es mit wenigen Worten zu sagen: Muße ist sowohl einfaches Sein als auch erfülltes Tun in Gelassenheit und Freiheit. Das heißt, Muße ist ein Zustand, in dem ich bei mir sein kann – ohne Druck zu verspüren, ohne etwas tun zu müssen, ohne gehetzt zu sein. Und das spiegelt sich in einer inneren Haltung. Wie man müßig ist, ist dabei individuell verschieden. Viele finden Muße in der Natur, etwa beim Spazierengehen, beim Reiten oder Joggen. Andere lieben ein entspannendes Bad oder gute Musik. Für mich selbst ist Meditation und Stille die kraftvollste Art, um zur Muße zu kommen. Muße als eine grundsätzliche Auffassung vom Leben lässt sich darüber hinaus in jede Aktivität einbringen.
Ja. Sie ist nötig, damit wir uns ausrichten und orientieren können. Muße bedeutet eine ausgleichende Qualität zwischen Konzentration und Entspannung. Gerade in unserer schnellen Zeit brauchen wir genau das dringend. Wir verspüren den Wunsch nach Erholung und das Bedürfnis, nicht nur im Tun Befriedigung zu finden, sondern es geht darum, sich selbst als Seiender zu spüren. Dieses eigentlich doch tiefe Verlangen ist allerdings heute vielen Menschen verloren gegangen, weil sie das Gefühl haben, immer auf der Überholspur sein zu müssen.
Wer keine Muße findet, dem kommt es oft vor, als rase sein Leben nur so dahin. Viele kennen das: Plötzlich hat man schon wieder Geburtstag, ist schon wieder Sommer. Den Weg zu diesen Ereignissen aber haben wir nicht wahrgenommen – dazu müssen wir nämlich innehalten und uns das, was uns umgibt, bewusst machen. Dann hören wir beispielsweise wieder, wie uns die Vögel mit ihrem Gezwitscher den Frühling ankündigen. Es sind Kleinigkeiten wie diese, die uns helfen, uns zu freuen, das Leben zu genießen, und gelassener zu werden. Dieser sanfte Blick auf uns und die Welt ist als eine innere Einstellung eine wichtige Ressource, die besonders in Lebenskrisen wichtig wird: Wenn wir beispielsweise mit Krankheit konfrontiert werden oder wir Trennungen durchmachen, provoziert das Fragen nach dem Sinn unseres Seins. Um hier Antworten zu finden, brauchen wir Muße. Gelernt zu haben, mit sich selbst konfrontiert zu sein und einmal nichts leisten zu müssen, bereichert immer, hilft aber gerade besonders in solchen schwierigen Lebenssituationen weiter.
Unser Erleben erfährt eine Revolution, wenn wir uns entscheiden, bewusster zu leben und Druck aus unserem Alltag zu nehmen. Das können wir, indem wir uns zeitliche Freiräume schaffen. Das können zehn Minuten sein, in denen wir anhalten, durchatmen, dasitzen. Eine andere Möglichkeit ist, sich an einem Abend nicht durch das Fernsehprogramm zu zappen, sondern konzentriert und gelöst ein gutes Buch zu lesen oder das Wochenende nicht mit Freizeitaktivitäten durchzutakten. All das kann die Lebensqualität enorm verbessern. Auch im Job sind Ruhephasen und eine Art Leerlauf im Kopf die Grundlage, um neue kreative Einfälle zu haben und wieder ein richtiges Maß zu finden. Diese Auszeiten müssen gar nicht lang sein. Es geht beispielsweise darum, den Pausenkaffee bewusst zu genießen statt dabei auf sein Handy zu starren und nebenbei E-Mails zu checken. Wir werden schnell merken, dass wir mit kleinen Auszeiten genauso viel schaffen wie ohne, allerdings viel ausgeglichener im Job sind.
Es gelingt, müßig zu werden, wenn man Muße die Priorität einräumt, die ihr gebührt. Es lohnt sich, sich zu fragen, was uns eigentlich diesen Termindruck macht. Was raubt uns so viel Zeit, dass keine mehr für uns selbst bleibt? Sind wir es vielleicht selbst, weil wir uns sogar unsere Freizeit mit Aktivitäten verplanen und es uns nicht gönnen, Ruhe zu haben? Viele verwechseln Muße mit Nichtstun. Doch während Nichtstun träge ist, ist Muße ein produktiver Prozess, in der wir zu uns selbst finden.
Das Erste ist immer ein Innehalten und eine Bestandsaufnahme, die sich mit den Fragen beschäftigt, wo wir gerade stehen und welchen Wert Gelassenheit und Muße in unserem Leben überhaupt haben: Sind wir gut darin, uns bewusst einfach hinzusetzen, ohne Ablenkung, oder werden wir womöglich dabei nervös? An dieser Stelle gilt es, in sich hineinzuhören: Ist dieser Zustand gut für uns oder möchten wir ihn ändern? Meiner Erfahrung nach haben die meisten Menschen das Gefühl, einen Richtungswechsel unternehmen zu müssen. Wenn man soweit ist, ist es eigentlich ganz einfach: Um müßig zu werden, muss man jetzt zum einen das tun, was Erholung bietet und Spaß macht. Zum anderen sollten wir uns unverplante Zeiten lassen, Pausen etwa, in denen wir offline sind. All das hilft, eine innere Milde zu entwickeln, anstatt verbissen To-Do-Listen abzuarbeiten. Mit dieser Sanftheit gewinnen wir Muße und eine ganze Menge Lebensqualität zurück.
Nicole Stern ist Meditationslehrerin, Autorin und Coach. In ihrer Arbeit hat sie sich auf Bewusstseinsschulung spezialisiert und bietet neben Retreats und Urlaubsseminaren auch Online-Kurse an. Neben ihrem Buch „Das Muße-Prinzip“ ist sie Mit-Autorin des Sammelbandes „Achtsamkeit: Mitten im Leben. Anwendungsgebiete und wissenschaftliche Perspektiven“ von Britta Hölzel und Christine Brähler. nicolestern.de