Für Wüstenrot Gründer Georg Kropp war das Bausparen die Lösung für die Wohnungsnot. Doch wie lebten die Menschen damals? Konnte ein Eigenheim dem Elend tatsächlich Abhilfe schaffen? Und wie entwickelte sich das Wohnen weiter? Wir sprachen mit Historiker Gerhard Halusa vom Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien über die Hintergründe, historischen Entwicklungen und die Idealform des Wohnens.
Gäbe es den Beruf des Wohnhistorikers, so würde dieser auf Gerhard Halusas Arbeit zutreffen: Er ist Historiker und führt seit vielen Jahren die Besucher:innen des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums unter anderem durch die Ausstellung „100 Jahre leben und wohnen in Wien“. Das macht ihn zu einem Experten für das Wohnen im Laufe der Jahrzehnte und für uns zum idealen Ansprechpartner, um die Wohnverhältnisse zur Gründungszeit von Wüstenrot zu verstehen.
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Wüstenrot wurde 1924 von Georg Kropp gegründet, der etwas gegen die seiner Ansicht nach furchtbaren Wohnverhältnisse unternehmen wollte. Er beobachtete zum Beispiel Wohnungsnot, Wohnelend und einen Zusammenhang zwischen schlechten Wohnverhältnissen und Krankheiten. War das übertrieben? Wie wohnten die Menschen in den 1920ern?
Um die Jahrhundertwende waren die Wohnungen der Arbeiter:innen in den Städten sehr beengt und bestanden oft nur aus einem Zimmer mit 20 m2. Dort lebten rund sechs bis acht Personen. Die Eltern und ihre Kinder schliefen alle in einem Bett, morgens standen sie auf und dann kamen die Bettgeher und legten sich in dasselbe Bett – ohne sich zu waschen oder das Bett neu zu beziehen. Es war also nicht besonders hygienisch. Um 1900 gab es 80.000 Bettgeher in Wien – also Menschen, die keine eigene Wohnung hatten und sich nur zum Schlafen irgendwo einmieteten. Hinzu kam, dass die Toiletten sich damals nur am Gang oder im Hof befanden. Im Rabenhof kamen beispielsweise auf über 200 Mieter:innen nur zwei Plumpsklos. Deshalb nutzten die Bewohner:innen Nachttöpfe, die sie dort lediglich entleerten.
Die Wohnungen waren damals kalt, feucht und schmutzig. Deshalb hielten sich die meisten Menschen auch nie in der Wohnung auf und kamen nur zum Schlafen nach Hause. Während die Erwachsenen zwölf Stunden arbeiteten, spielten die Kinder auf der Straße.
Insgesamt war die Stadt damals deutlich geruchsintensiver – auch wenn die Bevölkerung das damals nicht so wahrnahmen, weil sie es gewohnt war. Der Geruch befand sich überall: Die Menschen trugen täglich dasselbe Gewand, auf den Straßen waren Pferdefuhrwerke unterwegs, dann noch die Plumpsklos und Nachttöpfe … Mit unserer Nase dürften wir nicht 100 Jahre zurückgehen. (lacht)
Gegen 1924/25 begann dann zwar der soziale Wohnbau mit den Gemeindebauten, aber nicht alle konnten dieses Angebot nutzen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Wohnungen etwas größer und die beengte Wohnsituation deutlich besser.
Für Kropp war das Eigenheim die Lösung für das Elend und er gründete die „Gesellschaft der Freunde“, damit auch „kleine Bürger“ sich ein Haus bauen konnten. War diese Schlussfolgerung wirklich richtig?
Ja, das kann man schon sagen. In den 1920er-Jahren gab es einige Strömungen in diese Richtung. Zum Beispiel wollte Otto Neurath in Wien mithilfe des Siedlungsvereins Arbeiter:innen ein kleines Haus mit Garten ermöglichen, wo sie auch selbst ihr Gemüse ziehen konnten. Dann kam „das rote Wien“ mit den berühmten Gemeindebauten – das waren zwar keine Eigenheime, aber auch hier war rund um die Bauten viel Grün in Form von Parks und viel Garten. Zusätzlich gab es noch Gemeinschaftsküchen und zentrale Waschküchen. Das war also durchaus eine Zeit des Umdenkens in Sachen Wohnen.
Ein eigener Garten war ein zentraler Punkt damals – warum?
Dabei ging es in erster Linie um die Selbstversorgung. Man überlegte sich zu dieser Zeit, wie die Arbeiter:innen ihre Zukunft am besten selbst gestalten können. Es war eine Art Bildungsauftrag, damit diese Bevölkerungsteile unabhängiger werden. Mit dem kleinen Häuschen konnten sie selbst dafür sorgen, dass ihnen an nichts fehlt. Und natürlich sollte auch ganz allgemein die Versorgungslage verbessert werden.
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Nach unseren Quellen wurden kurz nach der Gründung von Wüstenrot als erste Bausparkasse in Österreich bereits die ersten Häuser gebaut. War das damals tatsächlich eine Trendwende?
Das hat schon einen Nerv der Zeit getroffen. Die Menschen befanden sich damals noch in einer Art Schockzustand aufgrund der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und des enormen Arbeiterelends. Diese lebten damals in „besseren Slums“, kann man sagen. Und genau diesen Schock wollte die Bevölkerung hinter sich lassen und die allgemeine Wohnlage verbessern.
Wie entwickelte sich das Wohnen über die Jahre weiter – auch im Hinblick auf neue Erfindungen, die beispielsweise den Haushalt erleichterten?
Gerade in den 1950er-Jahren gab es einen großen Fortschritt. Damals ging der Trend weg von monumentalen Bauten, wie beispielsweise den Gemeindebauten, und hin zu mehreren Häusern nebeneinander. Es wurden kleinere Wohneinheiten gebaut, die aber Gemeinschaftsflächen wie eine Waschküche hatten: Eine Waschküche bestand ursprünglich aus einer gemauerten Herdstelle, über der sich ein Bottich mit Wasser befand. Man musste die Wäsche händisch durchdrücken und ständig umrühren. Danach wurde die nasse Wäsche am öffentlichen Dachboden aufgehängt. Das war auch in den 1950ern noch so und ist erst langsam modernisiert worden.
Für die Körperhygiene gab es speziell in Wien das „Tröpferlbad“, um sich zirka einmal in der Woche zu duschen. Sonst verfügten die Wohnungen nur über ein „Lavoir“ (Anmerkung: eine Waschschüssel), um sich zu waschen.
Eine Waschmaschine und eine Dusche waren in den Eigenheimen zu dieser Zeit also bei weitem noch keine Voraussetzung – es gab lediglich einen Herd mit einem großen Zuber.
Erst in den 1980er-Jahren kamen dann Duschen in die Wohnungen, aber nur auf Eigeninitiative der Mieter:innen oder Eigentümer:innen. Generell erfolgten die Verbesserungen der Wohnungen immer auf Eigeninitiative und aus eigener Tasche – so auch beim Heizen: Zuerst wurde noch mit Koks geheizt, dann kamen der Nachtspeicherofen und kleine Gasöfen und später das Heizen mit Fernwärme.
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Und wie haben sich die Räume und Grundrisse über die Zeit verändert?
Während die Wohnungen in den Gründerzeithäusern um die Jahrhundertwende noch aus einem Zimmer mit 20 m2 bestanden, haben die Bewohner:innen nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachbarswohnungen gekauft, dorthin durchgebrochen und so die Wohnfläche auf das Doppelte vergrößert. Auch im Gemeindebau war die durchschnittliche Wohnfläche zu dieser Zeit für Familien 50 m2 und für Alleinstehende 40 m2.
Erst später wurden die Grundrisse immer größer – insbesondere ab den 1960er- und 1970er-Jahren mit Aufkommen der Wohlstandsgesellschaft. Damals wurde die Rigipsplatte erfunden, mit der Wohnungen viel leichter und schneller gebaut und umgebaut werden konnten. Die Menschen konnten sich damit ihr Heim so gestalten, wie sie es wollten. In dieser Zeit des Wohlstands hatten die Menschen auch erstmals Ferienhäuser.
Heute sind die Wohnflächen der städtischen Wohnungen auch nicht größer als in den 1950er-Jahren. Nur die Häuser und die prunkvollen Dachgeschoßwohnungen sind viel großzügiger angelegt.
Gab es in der Entwicklung des Wohnens eine Art „Wendepunkt“?
Ja, eindeutig in den 1970er-Jahren mit der Einführung der Rigipsplatten. Vorher wurde nur mit Ziegeln gebaut – dafür brauchte man Profis. Mit den Rigipsplatten konnte plötzlich jede:r bauen, weil sie so einfach zu bearbeiten und leicht sind.
Zu dieser Zeit entstanden auch die großen Baumärkte, weil alle selbst bauen wollten. Heimwerken wurde zu einem Trend der Allgemeinheit. Das war ein deutliches Zeichen des Wohlstandes.
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Wir haben in einem unserer Magazine aus 1966 zum ersten Mal das Thema „Kinderzimmer“ entdeckt, das davor nie eine Rolle spielte. Wie war das Wohnen als Familie bzw. Wohnen mit Kind generell und wann wurde es zum Thema?
Die Kinder der reichen Familien wuchsen immer sehr behütet auf, die Kinder der Arbeiterfamilien hingegen verbrachten Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Zeit vor allem draußen, denn sie hatten kein eigenes Zimmer. Die Wohnung war damals eigentlich nur zum Schlafen da. Später erhielten sie mit dem „Kabinett“ ein eigenes kleines Zimmer – da passten aber nur ein Bett und vielleicht noch ein Schreibtisch hinein. Zum Spielen gingen die Kinder hinaus auf die Wiese. In den 1950er-Jahren wurden die ersten Spielplätze gebaut, die allerdings betoniert wurden. Wenn man da von der Schaukel fiel, brauchte man die Rettung.
Erst in den 1960er-Jahren bekamen die Kinder „richtige“ Kinder- oder Jugendzimmer. Mitte der 1970er-Jahre verlagerte sich dann auch die Freizeit der Kinder in den Innenraum: Damals gab es nämlich die ersten rudimentären Computerspiele und Spielkonsolen. Ab dann wurden Aktivitäten rund um den Fernseher im Wohnzimmer beliebt und mit dem Computerzeitalter ab den 1990er-Jahren verbrachten die Kinder und Jugendlichen ihre Freizeit immer mehr in den Innenräumen.
Wir beleuchten die Geschichte des Kinderzimmers ab den 1920er-Jahren und geben altersgerechte Einrichtungsideen in unserem Beitrag zu 100 Jahre Kinderzimmer.
Welchen Trend beobachten Sie jetzt ganz allgemein?
Aktuell werden viele Wohnungen gebaut, die dann aber leer stehen. In der Immobilienbranche gibt es viel Spekulation. Außerdem werden alte Häuser weggerissen und neue gebaut, die aber vor allem finanziell nicht für die „normale Bevölkerung“ gemacht sind.
Bei den Mehrparteien-Häusern geht man wieder weg von der Idee und Idealen der Gemeindebauten, es gibt kaum mehr Grün bei diesen Gebäuden.
Die hohen Wohnkosten in den Städten sorgen dafür, dass die Menschen in die ländlichen Gebiete siedeln und sich dort ihr Eigenheim bauen. Das wiederum führt zu einer Zersiedelung.
Was wäre Ihrer Meinung nach die ideale Wohnform für die Zukunft?
Aus meiner Sicht wäre das Gemeinschaftswohnen das Ideal. Hier treffen Jung und Alt, Familien und Alleinstehende aufeinander, man teilt sich die Gemeinschaftsflächen und tritt persönlich in Kontakt. Das Gemeinschaftliche und die direkte Kommunikation sind in letzten Jahren leider verloren gegangen.
Gerhard Halusa ist Historiker und seit vielen Jahren im Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum tätig. Hier ist er Archivar und führt die Besucher:innen interaktiv durch die Ausstellungen des Hauses – wie etwa durch die Dauerausstellung „100 Jahre leben und wohnen in Wien“. Mit vielen Geschichten kann dabei in das Leben der Menschen im Laufe der Jahrzehnte eingetaucht werden. Zudem setzt das Museum einen starken Fokus auf die Wissensvermittlung und den Meinungsaustausch und bietet ein breites Angebot für Schulen.
Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum wurde 1925 von dem Nationalökonomen Otto Neurath gegründet und feiert 2025 ebenfalls seinen 100. Geburtstag. Diesen zelebriert es unter anderem mit der Sonderausstellung „Was wäre Wien“ ab Herbst 2025.
Weitere Informationen unter https://gwm.museum/.